Oft zeigen sich Geschichten durch simple Begebenheiten. Durch Abschalten zum Beispiel. (Ein Gastbeitrag von Florian Tietgen)
Während des Championsleage-Viertelfinales von Borussia Dortmund schaltete ich zwei Minuten vor Ende enttäuscht das Fernsehgerät aus. Der BVB war sowieso ausgeschieden. Da war nichts mehr zu machen. Aber dann, am nächsten Morgen erfuhr ich, was ich verpasst hatte. Oder womöglich verursacht? In den letzten, spannenden Minuten, die ich nicht mehr gesehen hatte, war die Mannschaft zur Höchstform aufgelaufen und ja, es war unglaublich: Die Mannschaft war doch weiter.
Und das alles nur, weil ich abgeschaltet hatte? Ich stelle mir vor, wie es wäre, hätte ich wirklich so viel Macht. Und plötzlich meldet sich eine neue Geschichte. Sie springt mir regelrecht entgegen und ruft: „Ich bin da. Du musst mich nur noch ausgraben, freilegen, mir folgen und mich niederschreiben.“ So drängen sich manchmal auch Titel auf. „… wenn es Zeit ist …“ lauten die Worte von Henriks Großmutter, als sie ihm ein Kästchen übergibt, das ihr größtes Geheimnis birgt. Doch wie findet man heraus, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist? Eine Frage, die Henrik lange beschäftigt.
Ich bin fest davon überzeugt, dass in jedem Buch ein Stück Persönlichkeit des Autors steckt. Ich selbst verstehe mich als Diener meiner Texte. Es sind die Geschichten, die sich nach vorn drängen, die erzählt werden wollen und die sich meines Kopfes und meiner Hände bemächtigen. So lange, bis ich sie zu meiner Zufriedenheit zu Papier gebracht habe. Es ist vergleichbar mit einem Steinmetz oder einem Bildhauer, der von sich sagt, er lege nur die Form frei, die bereits im Stein steckt und die offenbart werden möchte. Auch die Form einer Geschichte steckt oftmals schon in ihrem Ursprung. Für „… wenn es Zeit ist …“ kristallisierte sich irgendwann eine besondere Erzählstruktur heraus. Der erste Teil des Buches wollte einfach nicht linear erzählt werden. Er verlangte nach einer assoziativen Struktur. Klingt kompliziert, ist es aber nicht. Jede Begebenheit ist verknüpft mit einer anderen, die oftmals nicht chronologisch angeordnet sind, aber dennoch für jeden verständlich. So entblättert sich Stück für Stück Henriks Familiengeschichte.
Der Roman „… wenn es Zeit ist …“ erzählt von Dingen, die ich kenne. Er erzählt von einer Zeit, in der ich selbst in Henriks Alter war. Er spielt zum Teil in meinem Heimatort, er berichtet von einer geheimnisvollen Kraft, die in unserer Familie existierte und ganz sicher auch von Gefühlen, die immer mal wieder in mir hochkommen. Dennoch, auch wenn viel von mir persönlich in das Buch eingeflossen ist, so ist es keineswegs autobiografisch.
„… wenn es Zeit ist …“ meldete sich durch Verwandte aus England an, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte, die aber über die eigene Spurensuche auf uns gestoßen waren. Und plötzlich waren da noch mehr Verwandte, diesmal aus den USA. Wir trafen uns, redeten lange miteinander, über unsere Familie, unsere Wurzeln. Unser Gespräch führte uns zurück zu meinem schon vor Jahrzehnten verstorbenen Urgroßvater. Dem Urgroßvater, der mir in meiner Kindheit mit einer Arnikatinktur und gemurmelten Floskeln die Warzen besprochen hatte. Und auch bei diesen Erlebnissen drängte sich mir eine Frage auf. Was täte ich, hätte ich heilende Macht?
… wenn es Zeit ist …
Porträt einer Jugend von Florian Tietgen
Für Henrik gibt es viele Gründe, sich vor der Welt und dem Leben zu verstecken. Da ist sein Hang, zuzuschlagen, wie sein Vater es bei ihm getan hat. Da ist seine beste Freundin Michi, die behauptet, er könne mit seinem Atem Knochenbrüche heilen …
Und da ist Jan, ein Schulfreund, der Henrik mehr gefällt, als das den Moralvorstellungen der Sixties entspricht. Ein schön und einfühlsam geschriebener Roman um das Heranwachsen mit allen Gaben und Bürden, die ein Mensch oft tragen muss. „Zeitgleich auch immer wieder ein schöner Rückblick in die 70er Jahre, wunderbar geschrieben, sehr bildlich, atmosphärisch.“ (Leserin) ( 5 Rezensionen / 5,0 Sterne) (ca. 218 Normseiten) – hier für Kindle kaufen!
Macht ist auch das, was Henrik tagtäglich widerfährt. Macht, die ihm Angst einflösst, die ihn verwirrt und verunsichert und ihm gleichzeitig die eigene Machtlosigkeit seinen Talenten und seinen Gefühlen gegenüber vor Augen hält. In seiner Hilflosigkeit und Wut schlägt und zerstört er, genau wie sein Vater. Aber er heilt auch. Eine Fähigkeit, die Henrik zunächst nicht wahrhaben will: Er kann mit seinem Atem heilen. Beides verwirrt und verunsichert ihn zutiefst. Beides muss er zu akzeptieren lernen. Dabei helfen ihm seine beste Freundin Michi, seine Mutter, ein Schuldirektor und nicht zuletzt seine negativen Erfahrungen.
Ich glaube, fast jeder steht ab und zu fassungs- und machtlos der eigenen Wut, aber auch der eigenen Liebe gegenüber. Und ganz viele Menschen machen die Erfahrung, dass Liebe zerstören und heilen kann. Genau das ist es, was Henrik in diesem Buch erlebt. Macht, die akzeptiert werden muss, Wut, aus der Gutes erwächst, Vertrauen, das gefasst wird, Liebe, die nicht sein darf und die doch in Henrik heranwächst, wie eine Rose voller Dornen. Eine Geschichte über das Erwachsenwerden, darüber anders zu sein und dennoch Frieden zu finden. Ein Gegenwartsroman, eine Lebensgeschichte, aber auch eine Liebesgeschichte.