Michael Krüger, der legendäre Verlagsschef von Hanser, nennt die klassische Verlagswelt in einem Artikel der Zeit „holzverarbeitende Industrie“ – und das, was nun kommen wird, sei der „Elektrohandel“. Das erste klingt nach gutem Handwerk, das zweite nach krudem Kapitalismus. Krüger selbst freut sich angesichts dieser Entwicklung auf sein Altenteil.
In gewisser Weise kann ich ihn verstehen. Der Verlagschef von Amazon, Russell Grandinetti, erklärte die Verlage kürzlich als völlig sinnlos: „Es braucht nur Autoren und Leser“ und dazwischen einen Marktplatz: Amazon. Zusätzlich will Amazon in Zukunft selbst „Verlagsdienstleistungen“ anbieten.
Doch was sind eigentlich die Aufgaben eines klassischen Buchverlages? Braucht man ihn wirklich? Der Chef des Verlages Kiepenheuer & Witsch, Helge Malchow, erklärte sich letzte Woche dazu in einem Interview, das er Spiegel Online gab. Malchow brachte vier Punkte, die aus seiner Sicht die Existenz von klassischen Verlagen begründen – und die aus meiner Sicht Mythen sind, die letztendlich das Verlagsgeschäft gefährden:
Erster Mythos: Selbstverlag gab es schon immer, das sei keine Erfindung von Amazon. Das stimmt ein bisschen. Im Gegensatz zum Print Dienstleister, der im Auftrag eines Autors ein Anzahl Bücher produziert und diesem auf einer Europalette vor die Haustür stellt, erfüllt Amazon allerdings wesentlich mehr: Amazon bietet einen viel frequentierten Shop, übernimmt die Abrechnung mit dem Leser, bietet die breiteste eReader Plattform und gibt dem Autor 70 % vom Nettoerlös ab – das ist ungefähr zehn Mal so viel, wie ein Printverlag ausschüttet.
Zweiter Mythos: Im Gegensatz zum bloßen Händler Amazon baut ein Verlag geduldig und zielstrebig Autoren auf. Das stimmt nur teilweise. Gute Printverlage finden gute Autoren, geben ihnen finanzielle Sicherheit und erzeugen so das Biotop für gute Literatur. Aber natürlich geht es auch den Verlagen (genau so wie Amazon) immer nur um Produkte, also erfolgreiche Bücher. Der Autor ist ein Lieferant, der so lange bezahlt wird, wie die von ihm gemeinsam mit dem Verlag erzeugten Produkte am Markt gekauft werden. Verkauft sich ein Buch schlecht, kauft der Verlag bei dem Autor nicht mehr ein. Auch Kiwi muss die Renditeanforderungen des Konzerns erfüllen.
Dritter Mythos: Nur die Qualität eines Buches überzeigt den Leser. Deshalb braucht es Verlage. Hier muss ich immer ein bisschen durchatmen. Das bedeutet nichts anderes, als dass ein Autor stets nur rohes Textmaterial abliefert, das erst in der Hand der Verlagslektoren richtig gut wird. Als wenn kein Autor sein Handwerk verstünde (zu dem auch gehört, dass man ein Werk gegenlesen lässt). Schade. Ich hoffe wirklich, dass das „Leser – Autor Modell“ von Amazon in Zukunft beweist, dass Autoren sehr wohl in der Lage sind, ein qualitativ annehmbares Buch anzubieten. Ohne dass sie auf neunzig Prozent der Erlöse verzichten müssen.
Vierter Mythos: Auch in Zukunft wird es ein Verlagsbranding brauchen, damit ein Buch verkauft werden kann. Bedeutet: Ein eBook mit der Marke „Kiwi“ wird häufiger verkauft werden, als ein eBook ohne diese Marke. Eben wegen der Qualität. Sicher kann ein Verlag im klassischen Buchhandel bewirken, dass ein neuer Autor in das Schaufenster gestellt wird. Dass ein Verlagslogo dabei die Kaufentscheidung des Lesers beeinflusst, spricht für ein hohes Selbstbewusstsein der Verlage.
Doch dass sich diese Markenwirkung in das „Leser – Autor“ – Modell der Amazons, Apples und Googles übertragen lässt, halte ich für einen fatalen Irrtum. Kaufen Sie bei iTunes Titel großer Musikverlage? Das neue „Sony“-Album? Haben Sie im Amazon Shop schon mal nach dem Verlagsprogramm von Heyne gesucht? Wissen Sie, wer Stephen King verlegt?
Nach welchem Verlag suchen Sie, wenn Sie Harry Potter digital lesen wollen? Nach keinem – denn Frau Rowling verlegt ihre eBooks inzwischen selbst.
So lange deutsche Verlage in diesen Mythen verstrickt sind: sie selbst seien allein für die Qualität verantwortlich, Autoren seien ohne sie nichts und ohne ihren Markennamen ließe sich ein Buch nicht verkaufen; so lange stehen sie der „Amazon Revolution“ hilflos gegenüber. So hilflos, wie große Teile der Musikindustrie vor zehn Jahren da standen. Und heute nicht mehr existieren.